StPO § 55 umfängliches Auskunftsverweigerungsrecht bei Auslandszeugen

BGH, Urt. v. 23.12.2015 – 2 StR 457/14 – BeckRS 2016, 04742

Erklärt die Zeugin nicht ausdrücklich, von ihrem (umfassenden) Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen zu wollen, so ist das Gericht dazu verpflichtet gesteigerte Anstrengung zu unternehmen, um die Zeugin in der Hauptverhandlung oder in Form einer audiovisuellen Vernehmung zu können. Kommt es dieser Pflicht nicht nach, so stellt dies einen Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht dar.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 25. November 2015, in der Sitzung am 23. Dezember 2015 für Recht erkannt:

1. Auf die Revision der Angeklagten F. wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 20. Mai 2014, soweit es sie betrifft und sie verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit die Angeklagten J. und F. im Fall 10 der Anklage freigesprochen worden sind,
b) soweit die Angeklagte F. verurteilt worden ist
aa) im Fall 9 der Anklage,
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten J. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Angeklagte F. hat die Strafkammer unter Freisprechung im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer (ersten) Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer (weiteren) Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt; die von der Angeklagten in Frankreich (Guadeloupe) erlittene Auslieferungshaft hat es im Verhältnis 1:2 angerechnet. Die Angeklagte F. beanstandet mit ihrer Revision das Verfahren und erhebt die Sachrüge, soweit sie verurteilt ist. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer zu Ungunsten der beiden Angeklagten auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision gegen den Freispruch im Fall 10 der Anklage. Außerdem beanstandet sie, dass die Angeklagte F. im Fall 9 der Anklage lediglich wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und nicht auch - tateinheitlich - wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist. Die Rechtsmittel haben in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - u.a. folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
f) Im Fall 10 der Anklage hat das Landgericht die beiden Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Den Angeklagten ist vorgeworfen worden, die Zeugin Ba. beauftragt zu haben, im September 2012 insgesamt 30 Plomben gefüllt mit insgesamt etwa 300 Gramm Kokain nach Italien zu transportieren. Die Strafkammer hat zu diesem Vorwurf „keine sicheren Feststellungen“ treffen können. Der Angeklagte J. hat sich zur Sache nicht eingelassen, die Angeklagte F.
hat den Vorwurf bestritten. Nach Auffassung der Strafkammer habe die einzige Belastungszeugin Ba. , „die jetzt in Italien lebt, und gegen die insoweit selbst als Beschuldigte ermittelt worden ist, [...] umfassend von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht“. Ihre im Rahmen der Rechtshilfe in Italien durchgeführte - die Angeklagten belastende - frühere richterliche Vernehmung sei aufgrund eines Formfehlers nicht verwertbar. Allein der Umstand, dass von dem Angeklagten J. verschiedene Geldbeträge an die Zeugin Ba. überwiesen worden sind, reiche für eine Verurteilung nicht aus.

III. Revision der Staatsanwaltschaft
Die zu Ungunsten der beiden Angeklagten J. und F. eingelegte und wirksam beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet mit einer Aufklärungs- und einer Beweisantragsrüge den Freispruch der Angeklagten im Fall 10 der Anklage. Außerdem wendet sie sich dagegen, dass die Angeklagte F. im Fall 9 der Anklage außer wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nicht auch - tateinheitlich - wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist. Bereits die Aufklärungsrüge dringt hinsichtlich der Teilfreisprüche durch. Die Sachrüge führt sowohl zugunsten wie auch zuungunsten der Angeklagten F. zur Aufhebung im Fall 9 der Anklage.
1. Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) führt zur Aufhebung hinsichtlich der Freisprüche im Fall 10 der Anklage.
a) Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Strafkammer rechtsfehlerhaft davon ausgegangen sei, die Zeugin Ba. habe sich umfassend auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen; deswegen habe sie rechtsfehlerhaft von weiteren Anstrengungen, die Zeugin - gegebenenfalls im Rahmen einer audiovisuellen Vernehmung im Rechtshilfewege - zu vernehmen, Abstand genommen. Der Rüge liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:
Die Zeugin Ba. war ordnungsgemäß zur Hauptverhandlung am 11. Februar 2014 geladen worden, jedoch nicht erschienen. Ausweislich des verlesenen Schreibens des Polizeipräsidiums T. vom 5. Februar 2014 hat die Zeugin erklärt, dass sie „aus überraschend eingetretenen gesundheitlichen Gründen der Ladung keine Folge leisten“ könne; sie sei bereit, „auf Anfrage der zuständigen Justizbehörde ein Arztattest vorzulegen“. Zu einem weiteren Hauptverhandlungstermin am 12. März 2014 erschien sie ebenfalls nicht. Ausweislich des verlesenen Schreibens des Polizeipräsidiums
T. vom 12. März 2014 hat die Zeugin erklärt, dass sie „keine Absicht“ habe, „an der Verhandlung teilzunehmen, zumindest in der nahen Zukunft, weil dies gewisse Risiken für ihre Schwangerschaft birgen könnte, nachdem sie sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen hat“. Die Zeugin hat darüber hinaus „unmissverständlich erklärt, dass sie im Rahmen dieses Strafverfahrens bereits ausführlich ausgesagt hat“; insofern betrachte sie ihre weitere Teilnahme an einer Verhandlung als überflüssig.
Im Hauptverhandlungstermin vom 31. März 2014 hat die Strafkammer sodann darauf hingewiesen, dass „eine Vernehmung der Zeugin Ba. nicht erfolgen soll, da nach ihren Erklärungen, die sie auf Veranlassung des Gerichts gegenüber den italienischen Polizeibehörden abgegeben hat und die von diesen an das Gericht mitgeteilt worden sind, davon auszugehen ist, dass die Zeugin ihr Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 StPO in Anspruch nimmt“.
b) Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Der von der Strafkammer gezogene Schluss, die Zeugin Ba. habe „umfassend von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht“, hält - unbeschadet dessen, ob und in welchem Umfang ihr ein solches Recht zusteht - rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Wie sich aus den verlesenen Mitteilungen der italienischen Polizei ergibt, ist die Zeugin zuvörderst aus gesundheitlichen Gründen zu beiden Hauptverhandlungsterminen nicht erschienen. Eine ausdrückliche (vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. August 1988 - 4 StR 326/88, BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 5; Senge, in: KK-StPO, 7. Aufl., § 55 Rn. 12 mwN) Weigerung der Zeugin, (umfassend) auszusagen, ist weder gegenüber den italienischen Beamten noch gegenüber dem deutschen Gericht erklärt worden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Zeugin auch deswegen ihre Teilnahme an einer Verhandlung als überflüssig bewertet hat, weil sie sich auf ihre im Ermittlungsverfahren gemachte ausführliche Aussage berief, liegt der Schluss der Strafkammer fern, sie habe damit von ihrem (umfassenden) Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Das Landgericht hätte demzufolge gesteigerte Anstrengungen unternehmen müssen, die Hauptbelastungszeugin Ba. entweder in der Hauptverhandlung oder zumindest in Form einer audiovisuellen Vernehmung im Rechtshilfewege zu vernehmen. Auf der Verletzung der Amtsaufklärungspflicht beruhen auch die Teilfreisprüche im Fall 10 der Anklage. Wie die Beschwerdeführerin ausführt, hätte die Zeugin bekundet, zu beiden Angeklagten J. und F. u.a. auch in D. Kontakt gehabt zu haben und von diesen als Drogenkurierin eingesetzt worden zu sein; im September 2012 habe sie im Auftrag der beiden Angeklagten 30 Plomben Kokain von H. nach Italien gebracht und dafür auf Weisung der Angeklagten F. durch den Angeklagten J. 1.000 € als Entlohnung erhalten. Der Senat kann demnach nicht  ausschließen, dass das Landgericht zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre, wenn es die Zeugin vernommen hätte.
2. Da die Freisprüche im Fall 10 der Anklage bereits auf diesem Verfahrensverstoß beruhen, kommt es auf die weitere Verfahrensrüge der Beschwerdeführerin nicht an, die Strafkammer habe fehlerhaft einen Beweisantrag auf Vernehmung der beiden deutschen Ermittlungsbeamten, die der richterlichen Vernehmung der Zeugin Ba. in Italien beigewohnt hatten, als unzulässig (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) abgelehnt. Der Senat verweist insoweit auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 26. Februar 2015.