StGB § 24 Rücktritt trotz späterer Tötung

StGB § 24 Rücktritt trotz späterer Tötung
BGH, Beschluss v. 17. November 2016 – 3 StR 402/16

Bei einem mehraktigen Geschehen kommt hinsichtlich des ersten Einzelaktes ein Rücktritt vom Versuch eines Tötungsdelikts trotz tateinheitlicher Wertung beider Akte in Betracht, falls der Täter seinen Tatentschluss zu einem Zeitpunkt aufgegeben hatte, in dem er davon ausging, dem Opfer noch keine tödlichen Verletzungen beigebracht zu haben, selbst wenn er kurz darauf erneut einen Tötungsentschluss fasst, in dessen Umsetzung der tatbestandliche Erfolg in einem weiteren Geschehensakt eintritt. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 17. November 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 24. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und zwei sichergestellte Messer als Tatwerkzeuge eingezogen. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils.

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam L. K. , die Ehefrau des Angeklagten, die sich von diesem getrennt hatte, am frühen Morgen des Tattages gemeinsam mit einer Bekannten, der Zeugin S. , zurück in die Ehewohnung, um ihre Kinder zu besuchen. Nach zunächst freundlicher Begrüßung kam es im Laufe der folgenden Stunden wiederholt zu lautstarken Streitigkeiten der Eheleute über die Trennung und insbesondere über die Frage, bei wem die beiden gemeinsamen Kinder künftig leben sollten. Gegen 14:00 Uhr befand sich der Angeklagte in der Küche, als er vernahm, wie seine Ehefrau auf dem Balkon zu der Zeugin S. sagte, dass sie diesem "Zuhälter" die Kinder nicht überlassen werde. "Äußerst wütend" darüber lief er mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 12 cm in der Hand auf den Balkon. Unterwegssteckte er das Messer in den Hosenbund oder Ärmel, sodass es nicht sichtbar war. Er setzte sich wieder zu den Frauen auf den Balkon und L. K. fuhr damit fort, den äußerlich ruhig wirkenden Angeklagten "zu beschimpfen und massiv zu beleidigen". Spätestens jetzt fasste der Angeklagte aus Wut und Empö- rung, aber auch um zu verhindern, dass er in Zukunft ohne seine Kinder leben müsse, den Entschluss, seine Ehefrau zu töten. "Völlig unvermittelt und plötzlich" stach er mit dem Messer, das er unbemerkt hervorgeholt hatte, gezielt und mit Wucht auf das Gesicht seiner Ehefrau ein, wobei ihm bewusst war, dass diese in dem Moment nicht mit einem Angriff rechnete. Er versetzte ihr sodann mehrere Stiche in den Oberkörper und stach auch weiter auf sie ein, als L. K. zu Boden ging. Die um Hilfe rufende Zeugin S. flüchtete mit dem Sohn des Angeklagten, der an der Balkontür stand, ins Kinderzimmer. Als der Angeklagte erkannte, dass das Kind mit entsetztem Blick das Geschehen verfolgt hatte, hielt er inne und ließ das Messer fallen. Nunmehr ergriff L. K. das Messer und versuchte, nach dem Angeklagten zu stechen, was ihr möglicherweise auch gelang. In dem folgenden Gerangel drückte der Angeklagte die Hand seiner Ehefrau mit dem Messer nach unten und verbog dessen Klinge am Steinboden. Daraufhin ließ L. K. das Messer zunächst los. Das Geschehen verlagerte sich sodann in die Küche. Den weiteren Tatablauf hat das Landgericht nicht im Einzelnen zu klären vermocht; es hat daher zwei Alternativen für möglich gehalten: Entweder folgte der Angeklagte seiner Ehefrau, die mit dem verbogenen Messer in die Küche floh. Oder der Angeklagte ging – gefolgt von L. K. – dorthin, um die dort aufbewahrten Schlüssel zu holen, mit deren Hilfe die – wegen der Kinder abgeschlossene – Wohnungstür zu öffnen und die Wohnung zu verlassen. Jedenfalls, so die Feststellungen, stürzte in der Küche zunächst L. K. mit dem verbogenen Messer auf den Angeklagten zu. Dieser ergriff nun ein anderes kleineres Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 7,5 cm von der Ablage und stach damit nach seiner Ehefrau. Auch als diese in dem nachfolgenden Kampf ihr Messer verlor und zu Boden ging, stach er weiter auf sie ein "und vollendete so seinen ursprünglich gefassten Plan, sie zu töten". Insgesamt fügte der Angeklagte seiner Ehefrau mindestens 67 aktiv geführte Stiche zu, die zu deren Tod führten. Im Rahmen der Beweiswürdigung und der rechtlichen Würdigung des Geschehens hat die Strafkammer ausgeführt, es könne dem Angeklagten zwar nicht widerlegt werden, dass er den ursprünglichen Entschluss, seine Ehefrau zu töten, aufgegeben habe, als er seinen Sohn in der Balkontür erblickte, und er die Wohnung habe verlassen wollen, als sich seine Ehefrau in der Küche mit dem verbogenen Messer auf ihn stürzte. Darauf komme es bei der rechtlichen Bewertung indes nicht an; denn da das zweiaktige Geschehen insgesamt eine natürliche Handlungseinheit und damit eine Tat im Rechtssinne darstelle, sei es ohne Belang, dass der Angeklagte den Entschluss, seine Ehefrau zu töten, kurzfristig aufgegeben habe und auf welchen Gründen dies beruhte. Daher sei rechtlich allein die Lage zu Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs entscheidend und das Tatgeschehen demgemäß als ein Heimtückemord anzusehen.

II. Diese Wertung hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Die Verurteilung wegen Mordes wird von den Feststellungen nicht getragen; denn sie schließen nicht aus, dass der Angeklagte lediglich einen Mordversuch begangen hat, von dem er zurückgetreten ist mit der Folge, dass das Gesamtgeschehen einer abweichenden rechtlichen Würdigung unterliegt.

1. Das Landgericht hat, von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent, keine Feststellungen zu dem Vorstellungsbild des Angeklagten von der Tatsituation in dem Moment getroffen, als er aufhörte, auf dem Balkon auf seine Ehefrau einzustechen, und das Messer fallen ließ (sog. Rücktrittshorizont, vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2013 – 1 StR 647/12, NStZ-RR 2013, 273, 274; Beschluss vom 27. November 2014 – 3 StR 458/14, NStZ 2015, 331). Damit ist zunächst – naheliegend – davon auszugehen, dass er es für möglich hielt, seine Ehefrau durch weitere Stiche – oder gegebenenfalls andere ihm zur Hand liegende Mittel – im unmittelbaren Fortgang des Geschehens zu Tode zu bringen; daher war der Tötungsversuch nicht fehlgeschlagen. Offen bleibt des Weiteren, ob der Angeklagte nach dem letzten Stich davon ausging, seine Ehefrau werde an den ihr zugefügten Verletzungen versterben, oder ob er sich eventuell keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns machte; damit ist es möglich, dass der Mordversuch unbeendet war. Letztlich hat das Landgericht auch nicht festgestellt, dass der Anblick seines Sohnes bei dem Angeklagten eine unüberwindliche psychische Blockade auslöste, die es ihm unmöglich machte, mit seinem Tun fortzufahren (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2014, 4 StR 40/14, NStZ-RR 2014, 171, 172); somit kommt in Betracht, dass er freiwillig von weiteren Stichen absah. Nach alledem wird durch die bisherigen Feststellungen nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte im ersten Teilakt des Geschehens freiwillig vom unbeendeten Mordversuch zurückgetreten ist (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 StGB).

2. An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts dadurch, dass der Angeklagte kurz darauf in der Küche der Wohnung aufgrund des Messerangriffs durch seine Ehefrau erneut einen Tötungsentschluss fasste und diese nunmehr durch zahlreiche, mit einem anderen Messer geführte Stiche zu Tode brachte. Dies gilt unabhängig davon, ob das Geschehen auf dem Balkon und dasjenige in der Küche als natürliche Handlungseinheit anzusehen und daher tateinheitlich verknüpft sind (s. bereits BGH, Beschluss vom 12. März 1997 – 2 StR 100/97, NStZ 1997, 385; vgl. auch BGH, Beschluss vom 29. Januar 2001 – 4 StR 520/01, NStZ-RR 2002, 168). Eine natürliche Handlungseinheit liegt grundsätzlich (zu abweichender Beurteilung bei Angriffen gegen höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Opfer s. etwa Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., Vor § 52 Rn. 7 mwN) dann vor, wenn mehrere strafrechtlich relevante Handlungen des Täters, die durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind, in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen und sein gesamtes Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen Dritten als einheitliches Tun erscheint (BGH, Urteil vom 25. November 2004 – 4 StR 326/04, NStZ 2005, 263, 264; Beschluss vom 25. November 1992 – 3 StR 520/92, NStZ 1993, 234). Für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit hat ein das Gesamtgeschehen insgesamt umfassender Tatentschluss zwar neben dem erforderlichen raumzeitlichen Zusammenhang der Tathandlungen durchaus Bedeutung; insbesondere vermag er in Fällen, in denen die raum-zeitliche Verknüpfung der Einzelakte eher locker erscheint, maßgebliche Bedeutung für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit zu gewinnen. Unverzichtbare Voraussetzung für deren Vorliegen ist er indessen nicht. So stehen weder eine Änderung oder eine Erweiterung des Tatplanes noch auch eine kurzfristige Aufgabe des Tatentschlusses der Annahme einer natürlichen Handlungseinheit notwendig entgegen, wenn die Handlungen in dem vorausgesetzten engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 1973 – 1 StR 346/73, juris Rn. 18). Jedoch vermag die Zusammenfassung mehrerer für sich strafrechtlich relevanter Einzelakte eines Gesamtgeschehens zu einer natürlichen Handlungseinheit nicht die strafrechtliche Bewertung des jeweiligen Einzelaktes zu modifizieren. Sie kann lediglich Folgen für deren konkurrenzrechtliche Beurteilung haben. Dies hat das Landgericht verkannt. Die von ihm zum Beleg für seine Auffassung herangezogenen Vergleichsfälle betrafen abweichende Fallgestaltungen. Diese waren je dadurch gekennzeichnet, dass der Täter nicht – wie hier zu Gunsten des Angeklagten bezüglich des versuchten Mordes zu unterstellen – vom ersten Teilakt des Geschehens freiwillig zurückgetreten war: In der dem Urteil des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 27. März 1953 (2 StR 801/52, BGHSt 4, 219) zugrunde liegenden Sache hatten die Angeklagten nach Versuchsbeginn ihren Entschluss zum Einbruchsdiebstahl zunächst wegen des Erscheinens eines Streifenwagens der Polizei aufgegeben, waren aber in Tatortnähe verblieben und hatten ihr ursprüngliches Vorhaben, als der Streifenwagen vorbeigefahren war, aufgrund neu gefassten Entschlusses in die Tat umgesetzt. Im ersten Teilakt war der Diebstahlsversuch daher fehlgeschlagen, sodass ein Rücktritt ausschied. Dass der Diebstahlsversuch bei dieser Sachlage nicht gesondert ausgeurteilt wurde, lag allein daran, dass der 2. Strafsenat trotz des ersichtlich vorliegenden Fehlschlags des ersten Teilakts (zur Beendigung einer natürlichen Handlungseinheit durch das Fehlschlagen des Versuchs s. indes etwa BGH, Urteile vom 25. November 2004 – 4 StR 326/04, NStZ 2005, 263, 264 mwN; vom 19. März 2013 – 1 StR 647/12, NStZ-RR 2013, 273, 274 f.) weiterhin von einer natürlichen Handlungseinheit ausging, bei der der Versuch hinter den nach Wiederaufnahme des Tatentschlusses verwirklichten Taterfolg im Wege materieller Subsidiarität zurücktrat (LK/Rissing-van Saan, 12. Aufl., Vor § 52 Rn. 132 mwN). Ähnliches gilt für den Fall, den der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 13. November 1973 (1 StR 346/73, juris) zu entscheiden hatte. Dort war der Angeklagte nach dem ersten Teilakt zunächst irrtümlich davon ausgegangen, sein Opfer bereits plangemäß getötet zu haben, und war zur Beseitigung der vermeintlichen Leiche zu einem anderen Ort gefahren, wo er seinen Irrtum bemerkte und nunmehr sein Opfer endgültig ums Leben brachte. Hier kam ein Rücktritt vom Tötungsversuch im ersten Teilakt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Angeklagte seinen Tatentschluss zu keinem Zeitpunkt aufgegeben hatte, sondern lediglich zunächst irrtümlich angenommen hatte, den Taterfolg schon herbeigeführt zu haben. Nur auf die in den beiden Fällen zu beurteilende jeweilige Konstellation bezog sich auch die – für sich missverständliche – Formulierung des 1. Strafsenats in dem zitierten Urteil (juris Rn. 18), dass es gleichgültig sei, worauf die Aufgabe des ursprünglichen Tatentschlusses beruhe. Nach den bisherigen Feststellungen ist daher nur belegt, dass sich der Angeklagte im ersten Tatabschnitt der gefährlichen Körperverletzung und im zweiten Tatabschnitt – in Überschreitung der Grenzen des Notwehrrechts – des Totschlags an seiner nicht mehr arg- und wehrlosen Ehefrau schuldig gemacht hat, wobei beide Taten gegebenenfalls in Tateinheit stehen.

3. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Bezüglich der Einziehung der beiden Tatmesser wird auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 13. Oktober 2016 verwiesen.