StGB § 21 „Spiegeltrinker“

 

BGH, Beschl. v. 01.09.2010 – 2 StR 408/10 - BeckRS 2010, 23476

Der Umstand, dass es sich beim Angeklagten um einen alkoholgewöhnten "Spiegeltrinker" handelt, ist in seiner Bedeutung für die Steuerungsfähigkeit jedenfalls bei sehr hoher Blutalkoholkonzentra­tion gemindert.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 1. September 2010 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen: 

  1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 21. April 2010 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. 
  2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  3. Die weitergehende Revision wird verworfen. 

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Seine Revision führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Rechtsfolgenaus­spruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Beweiswürdigung, aufgrund derer das Landgericht das Vorliegen einer im Sinne von § 21 StGB erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat verneint hat, hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach den Fest­stellungen des Landgerichts handelt es sich bei dem Angeklagten um einen "depravierten, verfallenen Alkoholiker", einen "Spiegeltrinker", der ständig große Mengen Alkohol konsumiert und dessen Leben hiervon geprägt ist. Auch am Tattag konsumierte er - mit den Eltern der Geschädigten - größere, im einzelnen nicht mehr feststellbare Mengen Alkohol, bis er "stark angetrunken" war; er konnte noch sprechen, hatte aber Mühe zu gehen. Er legte sich im Kin­derzimmer der Wohnung zum Schlafen. Als die 8-jährige Geschädigte und ihre Schwester begannen, mit ihm zu spielen, zog er der Geschädigten die Hose herunter, leckte einmal über ihre Scheide und beendete dies sofort, als die Geschädigte ihn hierzu aufforderte. Der Angeklagte hat die Tat gestanden; er hat bekundet, er habe sie nur aufgrund seiner Trunkenheit begangen; im nüchternen Zustand hätte er "so etwas nie im Leben getan". Einige Monate nach der Tat stach ihn der Vater der Geschädigten aus Rache für die Tat nieder und verletzte ihn so schwer, dass er nur durch glückliche Umstände und eine Notoperation gerettet werden konnte. Das Landgericht ist einem in der Haupt­verhandlung vernommenen Sach-verständigen in der Beurteilung gefolgt, eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit habe nicht vorgelegen. Ein hirnorganisches Psychosyndrom sei beim Angeklagten noch nicht gege­ben. Die genaue Höhe der Alkoholintoxikation zur Tatzeit habe sich nicht mehr feststellen lassen. Für seine uneinge­schränkte Steuerungsfähigkeit sprächen die Umstände, dass er "Spiegeltrinker" und alkoholgewöhnt sei, dass er noch relativ normal sprechen konnte und dass er "zielgerichtet" die Hose des Kindes heruntergezogen und über seine Scheide geleckt habe. Die Eltern der Geschädigten, mit denen er vor der Tat gezecht hatte, könnten, da sie den An­geklagten "schon lange Zeit kennen", seine Alkoholisierung "gut beurteilen" (UA S. 17). Bei der Strafzumessung hat das Landgericht überdies ausgeführt, zu Gunsten des Angeklagten sei der "Alkoholkonsum mit der Folge einer sol­chen Enthemmung und nur daraus resultierend die Verübung der hier gegenständlichen Tat" zu werten gewesen (UA S. 17) S. 19). Aufgrund dieser Ausführungen ließ sich eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht aus­schließen. Soweit das Landgericht die Bekundung des Sachverständigen wiedergibt, die Trinkmengenangaben des Angeklagten seien unrealistisch hoch gewesen, wird nicht deutlich, ob es gegebenenfalls möglich war und versucht wurde, durch Kontrollrechnungen jedenfalls zur Feststellung von annähernd realistischen Werten zu gelangen oder ob dies - auch unter Berücksichtigung der Zeugenaussagen der Mittrinker - von vornherein ausgeschlossen war. Die vom Landgericht herangezogenen Argumente, der Angeklagte sei "Spiegeltrinker" und habe die Tat "zielgerichtet" ausgeführt, haben im vorliegenden Zusammenhang für die Feststellung der Steuerungsfähigkeit kaum Gewicht. Die "Zielgerichtetheit" der Tatausführung ging ersichtlich nicht über die bloße (spontane) Begehung der Tat hinaus; dies erforderte offenkundig weder differenzierte Überlegungen noch komplexe körperliche Fertigkeiten, die auf voll erhaltene Steuerungsfähigkeit hindeuten könnten. Der Umstand, dass es sich beim Angeklagten um einen alkoholgewöhnten "Spiegeltrinker" handelt, ist in seiner Bedeutung für die Steuerungsfähigkeit jedenfalls bei sehr hoher Blutalkoholkonzentration gemindert. Gegen voll erhaltene Steuerungsfähigkeit sprechen die wiederholten Beschrei­bungen des Angeklagten als "verfallener, depravierter Alkoholiker" durch das Landgericht, die Feststellung, die Tat habe "nur" aus der alkoholischen Enthemmung resultiert, sowie die spontane, ohne jegliche Sicherungstendenz in Anwesenheit eines zweiten Kindes vollzogene Tatbegehung. 

2. Keinen Bestand hat auch die Nichtanordnung einer Maßregel gemäß § 64 StGB. Das Landgericht hat -im An­schluss an den Sachverständigen - insoweit ausgeführt, eine Unterbringung sei aussichtslos. Der Angeklagte sei "völlig haltlos"; er sei "ohne jegliches Problembewusstsein" (UA S. 22). Das ist mit sonstigen Feststellungen nicht vereinbar. Danach hat der Angeklagte "einen Antrag auf Durchführung einer Alkoholentwöhnungstherapie" (UA S. 5) gestellt; im Januar 2010 fand ein Beratungstermin statt; der Angeklagte hat aber bisher die erforderlichen Unterla­gen nicht zusammengestellt (ebd.). In seinem letzten Wort äußerte er "den Wunsch nach einer letzten Chance zur Therapie" (UA S. 23). Danach kann nicht die Rede davon sein, es liege keinerlei Problembewusstsein vor. Die Aus­führung des Landgerichts, "eine bloße Absichtserklärung ohne einen ernstzunehmenden eigenen Beitrag" reiche nicht aus (UA S. 23), lässt im Unklaren, welchen "eigenen Beitrag" der Tatrichter als Voraussetzung einer Maß­regelanordnung verlangt. Wäre dies, wofür die Formulierungen sprechen könnten, die bereits "ernsthafte" oder gar erfolgreiche Durchführung einer (ambulanten) Therapie, so würde dies die Voraussetzungen des § 64 StGB verken­nen. Auf dieser widersprüchlichen, jedenfalls unklaren Grundlage findet die Entscheidung, von einer Maßregelan­ordnung abzusehen, keine Stütze. Der neue Tatrichter hat über die Rechtsfolgen daher insgesamt neu zu entscheiden.

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