StGB § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2: Besondere Schuldschwere

BGH, Urt. v. 18.06.2014 - 5 StR 60/14 - NStZ 2014, 511

Bei der Prüfung der besonderen Schuldschwere hat sich das Tatgericht an den für die Strafzumessungsschuld im Sinne von § 46 StGB geltenden Regeln zu orientieren. Dementsprechend kann nach den hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen auch das Nachtatverhalten bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob Umstände von Gewicht die Annahme besonderer Schuldschwere indizieren, wenn ein innerer Zusammenhang mit dem Schuldvorwurf besteht und sichere Schlüsse auf die Einstellung des Täters zur Tat möglich sind.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 5. August 2013 aufgehoben, soweit das Landgericht die besondere Schwere der Schuld verneint hat. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist durch Beschluss des Senats vom 12. März 2014 verworfen worden. Gegen das Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, soweit das Landgericht die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten verneint hat (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, hat Erfolg.

 

1. Das Landgericht ist im Wesentlichen zu folgenden Feststellungen und Wertungen gekommen:

a) Der Angeklagte war mit seiner Ehefrau seit 1985 verheiratet und hatte mit ihr zehn Kinder. Nach seiner Rückkehr von einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt war seine Frau nicht mehr zur Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft bereit. Der Angeklagte wollte sie aber unbedingt dazu bewegen, wieder mit ihm zusammenzuleben. Er verfiel auf die Idee, sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie auf seine Unterstützung bei der Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder angewiesen sein würde. Zu diesem Zweck zerstieß er Tabletten eines hochwirksamen und potentiell lebensgefährlichen Neuroleptikums in kleine Stücke. Das Pulver gab er seiner damals zwölfjährigen Tochter T. und täuschte vor, es handele sich um Zucker. Das Mädchen glaubte seinem Vater und mischte, dessen Weisungen folgend, das Medikament dem Tee der Mutter bei. Die unbemerkte Aufnahme des Medikaments führte bei dieser im Oktober und Anfang November 2012 zu schwerwiegenden Ausfallerscheinungen, die eine ärztliche Behandlung notwendig machten. Das Mädchen ahnte, dass die Krankheit der Mutter mit den Beimischungen in Zusammenhang stehen könnte, und stellte diese ein. Der Gesundheitszustand der Mutter besserte sich. Nachdem der Angeklagte am 16. November 2012 erfahren hatte, dass seine Ehefrau die Scheidung betrieb, beschloss er, sie zu töten, falls sie nicht zu ihm zurückkehre. In der Kirche, in der sie als Küsterin arbeitete, versteckte er seine Vorderschaftrepetierflinte.

Vermutlich nach einem gescheiterten letzten Versöhnungsversuch trat er von hinten an seine sich

keines Angriffs versehende Frau heran. Als sie gerade die Tür zur Sakristei absperrte, tötete er sie mit einem Schuss in den Hinterkopf aus der herbeigeholten Waffe. Seine Tochter T. und sein damals 20-jähriger Sohn R. hatten vor der Kirche gewartet. Sie hörten den Schuss, eilten in die Kirche und erblickten ihre blutüberströmt am Boden liegende Mutter. Der Angeklagte forderte seine schockierten und völlig aufgelösten Kinder „mit einem energischen Ton“ auf, ihm zu helfen, die Leiche wegzutragen und sauberzumachen (UA S. 22). Mit R. trug er die Leiche in den Keller der Kirche. Auch T. half zunächst mit, weil die Leiche schwer war und R. aufgrund seines traumatisierten Zustands fast zusammenbrach. Danach wischten alle drei beträchtliche Mengen Blut sowie Gewebeteile auf und spülten diese in die Toilette. Anschließend flüchtete der Angeklagte mit beiden Kindern im Auto nach Österreich, kehrte jedoch zwei Tage später nach Deutschland zurück und stellte sich der Polizei. Nach seiner Festnahme wurde der Angeklagte zur Beobachtung im psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. In deren Verlauf übergab er dem psychiatrischen Sachverständigen einen mehrseitigen Brief, in dem er seinen Sohn bezichtigte, die Mutter getötet zu haben, weil dieser sich von ihr schlecht behandelt gefühlt habe. Es sei in der Kirche zwischen ihm und R. zu einem Handgemenge gekommen, bei dem ihm R. die Waffe entrissen habe. R. sei zur Mutter gelaufen und habe sie erschossen. Zur Beimischung des Medikaments bekundete er gegenüber dem Sachverständigen, er habe das Pulver von R. bekommen und es für Süßstoff gehalten. In diesem Glauben habe er es T. zur Weiterreichung an seine Ehefrau gegeben.

Die Tabletten müsse R. zerkleinert haben, möglicherweise als Anschlag auf seine Mutter.

b) Die Schwurgerichtskammer hat die Tötung der Ehefrau des Angeklagten als Heimtückemord gewertet. Das Mordmerkmal des Handelns aus niedrigen Beweggründen hat sie verneint, weil sich der Angeklagte auch in Verzweiflung befunden habe. Die besondere Schuldschwere hat sie unter anderem im Blick auf eine bei ihm diagnostizierte narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung abgelehnt. Dass der Angeklagte seinen Sohn R. hinsichtlich beider Taten der Täterschaft bezichtigt habe, sei zulässiges und deswegen nicht berücksichtigungsfähiges Verteidigungsverhalten.

Zudem habe er in der Hauptverhandlung geschwiegen und daher die Vorwürfe nicht wiederholt. Die Mithilfe seiner Kinder bei der Spurenbeseitigung und dem Wegtragen der Leiche habe er nicht geplant und seine Kinder auch nicht dazu gezwungen. Die gefährliche Körperverletzung und der Mord stünden nicht „in kriminologischem Zusammenhang“ und seien von unterschiedlicher Zielrichtung geprägt. Auch bei einer zusammenfassenden Bewertung beider Taten sei die Annahme besonderer Schuldschwere deshalb nicht geboten.

2. Die Ablehnung der besonderen Schuldschwere im Sinne der § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 57b StGB hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar ist dem Revisionsgericht dabei eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt; jedoch ist auf die Sachrüge zu prüfen, ob das Tatgericht alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 1994 – GSSt 2/94, BGHSt 40, 360, 370; Urteile vom

1. Juli 2004 – 3 StR 494/03, BGHR StGB § 57a Abs. 1 Schuldschwere 25; vom 9. Oktober 2008 – 4 StR 354/08, NStZ 2009, 203, 204, und vom 27. Juni 2012 – 2 StR 103/12, BGHR StGB § 57a Abs. 1 Schuldschwere 27). Daran fehlt es hier in mehrfacher Hinsicht.

a) Bei der Prüfung der besonderen Schuldschwere hat sich das Tatgericht an den für die Strafzumessungsschuld im Sinne von § 46 StGB geltenden Regeln zu orientieren (vgl. LK/Hubrach, 12. Aufl., § 57a Rn. 16 mwN). Dementsprechend kann nach den hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (vgl. LK/Theune, 12. Aufl., § 46 Rn. 197 ff.) auch das Nachtatverhalten bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob Umstände von Gewicht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 1994 – GSSt 2/94, aaO) die Annahme besonderer Schuldschwere indizieren, wenn ein innerer Zusammenhang mit dem Schuldvorwurf besteht und sichere Schlüsse auf die Einstellung des Täters zur Tat möglich sind. Nach diesen Maßstäben hat die Schwurgerichtskammer die von Seiten des Angeklagten erfolgte Falschbezichtigung seines Sohnes auch eingedenk des dem Tatgericht in diesem Bereich zustehenden Beurteilungsspielraums (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 1995 – 1 StR 69/95, StV 1995, 633, 634; LK/Theune, aaO, § 46 Rn. 210 mwN) zu Unrecht als zulässiges Verteidigungsverhalten gewertet und daher nicht in seine Schuldschwereabwägung eingestellt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann dem Angeklagten ein Verhalten gegenüber Zeugen oder Mitangeklagten ausnahmsweise dann angelastet werden, wenn es eindeutig die Grenzen angemessener Verteidigung überschreitet und Rückschlüsse auf eine rechtsfeindliche Haltung zulässt; dies kann etwa dann anzunehmen sein, wenn der Angeklagte einen völlig Unschuldigen der Tatbegehung bezichtigt (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 1974 – 1 StR 593/73, MDR bei Dallinger 1974, 721; Beschlüsse vom 21. April 1995 – 1 StR 69/95, aaO; vom 22. März 2007 – 4 StR 60/07, NStZ 2007, 463; LK/Theune, aaO, § 46 Rn. 210 f.). So liegt der Fall hinsichtlich beider Taten hier. Die besonders verwerfliche Einstellung des Angeklagten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 14. November 1990 – 3 StR 160/90, NStZ 1991, 181, 182) kommt dabei augenfällig dadurch zum Ausdruck, dass dieser seinen eigenen Sohn, der ihm ergeben (UA S. 8) und durch den Verlust der Mutter sowie die vom Angeklagten „energisch“ befohlene Mitwirkung beim Wegtragen der Leiche und der Säuberung des Tatorts ohnehin traumatisiert war, als Alleinverantwortlichen für die Vergiftung und Tötung der Mutter bezeichnet hat. Zwar hat der in der Hauptverhandlung schweigende Angeklagte seine Vorwürfe dort nicht dezidiert wiederholt. Dies lässt sein Verhalten aber schon deswegen nicht in einem entscheidend milderen Licht erscheinen, weil sie dort – ihm zurechenbar – insbesondere im Zusammenhang mit der Vernehmung des psychiatrischen Sachverständigen zentraler Gegenstand der Erörterung waren, was sich auch in breiten Ausführungen in den Urteilsgründen niedergeschlagen hat (UA S. 44 ff., 58 ff.).

b) Die bewusste und energische Instrumentalisierung seiner Kinder bei der Spurenbeseitigung am Tatort und die – von der Schwurgerichtskammer in diesem Zusammenhang trotz ihrer Wesentlichkeit überhaupt nicht erörterten – auch dadurch verursachten psychischen Beeinträchtigungen seiner Tochter (UA S. 23, 49) und seines Sohns, die bei diesem eine 17 Wochen dauernde stationäre Behandlung und eine anschließende ambulante Therapie erforderlich machten, sind allein für sich genommen Umstände von besonderem Gewicht, die bei der Prüfung der § 57a Abs. 1 Nr. 2, § 57b StGB zu würdigen gewesen wären. Die Überlegungen der Schwurgerichtskammer zum Fehlen hypothetisch noch weiter schulderhöhend wirkender Umstände (Zwang, Einbindung der Kinder als Teil eines vorgefassten Tötungsplans) vermögen in Bezug auf die festgestellten und den Angeklagten bereits für sich genommen außerordentlich schwer belastenden Strafzumessungstatsachen keine schuldmindernde Wirkung zu entfalten.

c) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet es schließlich, dass das angefochtene Urteil der vorhergehenden, von der Schwurgerichtskammer mit einer Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren geahndeten Vergiftung des Opfers mangels „unmittelbaren zeitlichen oder auch nur situativen Kontexts“ (UA S. 97) einen hinreichenden Zusammenhang mit dem später verübten Mord abspricht und sie deshalb gar nicht in Ansatz bringt. Die zeitlich nicht weit auseinanderliegenden Taten sind dadurch gekennzeichnet, dass der Angeklagte seine Interessen unter Verletzung von Leib und Leben desselben Opfers und seine Kinder instrumentalisierend durchzusetzen bestrebt war. Dass es ihm zunächst um die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft und nach Nichterreichen dieses Ziels um die Vernichtung des Lebens seiner Ehefrau gegangen ist, stellt den erforderlichen inneren („kriminologischen“) Zusammenhang (vgl. dazu BGH, Urteil vom 8. August 2001 – 3 StR 162/01) deshalb nicht in Frage.

d) Ein weiterer Rechtsfehler liegt darin, dass die Schwurgerichtskammer bei der Prüfung der Schuldschwere nicht berücksichtigt hat, dass der Angeklagte die Taten während laufender Bewährung aus seiner Verurteilung zu einem Jahr Freiheitsstrafe wegen Misshandlung seiner schwerbehinderten Tochter E. L. begangen hat.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht auch in Anbetracht der Persönlichkeitsakzentuierung des Angeklagten, die fraglos einen gewichtigen Milderungsgrund darstellt, gleichwohl zur Annahme der besonderen Schwere der Schuld gelangt wäre, wenn es die genannten Umstände rechtsfehlerfrei gewürdigt und abgewogen hätte.

Da lediglich Wertungsfehler inmitten stehen, können die Feststellungen bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisher getroffenen nicht widersprechen.

4. Für die neue Hauptverhandlung wird darauf hingewiesen, dass das Tatgericht einen Ermessensspielraum hat, ob es die besondere Schuldschwere schon bei der Würdigung des Mordes prüft sowie gegebenenfalls feststellt und dann in einem zweiten Schritt hinsichtlich der Gesamtstrafe die gefährliche Körperverletzung als weiteren schulderhöhenden Umstand bewertet (§ 57b StGB) oder ob es die besondere Schuldschwere in einer Gesamtwürdigung nur in Bezug auf die Gesamtstrafe erörtert (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 1996 – 3 StR 469/96, NJW 1997, 878 mwN; siehe auch BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 4 StR 354/08, NStZ 2009, 203, 204).