StPO § 304 Abs. 4 S. 2 Anfechtung einer sitzungspolizeilichen Maßnahme durch den Richter – Ausschluss eines Pressevertreters

BGH, Beschl. v. 13.10.2015 – StB 11/15 – NJW 2015, 3671

Danach ist gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte in Sachen, in denen sie im ersten Rechtszug zuständig sind, die Beschwerde nur in den in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO ausdrücklich aufgeführten Fällen zulässig. Sitzungspolizeiliche Anordnungen finden dort keine Erwähnung. Eine allenfalls im engsten Rahmen in Betracht kommende analoge Anwendung der nach ständiger Rechtsprechung restriktiv auszulegenden Ausnahmevorschriften scheidet im vorliegenden Fall auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßgaben, auf die sich die Beschwerdeführerinnen berufen, aus.
Auch dass vorliegend das Grundrecht der Pressefreiheit betroffen ist, rechtfertigt es nicht, entgegen dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers ein Beschwerderecht einzuräumen
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts sowie der Beschwerdeführer und ihrer Bevollmächtigten am 13. Oktober 2015 gemäß § 304 Abs. 4 Satz 1, 2 Halbsatz 1 StPO beschlossen:
Die Beschwerden der S. SE und der B. GmbH & Co. KG gegen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden des 4. Strafsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 14. Juli 2015 sowie gegen den Entzug der dem Medium "B. " erteilten Akkreditierung durch Verfügung vom 3. August 2015 werden verworfen.
Die Beschwerdeführerinnen tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.
Gründe:
1 Seit dem 3. August 2015 findet vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten statt. Vor deren Beginn hat der Vorsitzende des Strafsenats am 14. Juli 2015 eine sitzungspolizeiliche Anordnung getroffen. Darin hat er unter anderem verfügt, dass Film- und  Fotoaufnahmen der Presse vor und nach der Sitzung sowie in den Sitzungspausen zwar erlaubt seien, die Gesichter der Angeklagten vor der Veröffentlichung aber durch technische Verfahren anonymisiert werden müssten. Nachdem die Beschwerdeführerin zu 2. am 1. Hauptverhandlungstag zwei Foto- und Videoaufnahmen aus dem Gerichtssaal veröffentlicht hatte, auf denen das Gesicht des Angeklagten Be. unverpixelt zu sehen war, hat der Vorsitzende noch am selben Tag entschieden, dem Medium "B. " die zuvor gewährte Akkreditierung für das Strafverfahren gegen die Angeklagten zu entziehen. Mit ihren Rechtsmitteln wenden sich die Beschwerdeführerinnen gegen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden des Strafsenats vom 14. Juli 2015 sowie gegen den Entzug der Akkreditierung am 3. August 2015.
Die Beschwerden sind nicht zulässig. Die vom Vorsitzenden getroffenen sitzungspolizeilichen Anordnungen (§ 176 GVG) sind nicht anfechtbar. § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO lässt ein Rechtsmittel gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte in Sachen, in denen sie im ersten Rechtszug zuständig sind, nur in ausdrücklich aufgeführten Fällen zu. Diesem Katalog unterfallen die angegriffenen Verfügungen nicht.
Im Einzelnen:
1. Bei den angefochtenen Anordnungen handelt es sich um sitzungspolizeiliche Maßnahmen im Sinne des § 176 GVG. Eine ausdrückliche Regelung zur Anfechtung dieser Maßnahmen enthält das Gerichtsverfassungsgesetz nicht. § 181 Abs. 1 GVG sieht lediglich ein befristetes Rechtsmittel gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln nach §§ 178, 180 GVG vor. Daraus zieht die herrschende Meinung den Schluss, dass alle sonstigen sitzungspolizeilichen Maßnahmen der Beschwerde entzogen sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2009 - 1 BvR 2436/09, AfP 2009, 581, 582; vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08, NJW 2015, 2175, 2176 mwN). Sie befindet sich damit im Einklang mit dem Willen des historischen Gesetzgebers (vgl. Hahn, Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1, S. 883, 976). Dieser Umkehrschluss aus § 181 GVG ist indes nicht zwingend. Denn die Regelung ist ihrem Wortlaut nach auf die Festsetzung von Ordnungsmitteln beschränkt. Dies lässt ein Verständnis nicht ausgeschlossen erscheinen, wonach für die Anfechtung der sonstigen sitzungspolizeilichen Maßnahmen die Rechtsmittelvorschriften der Prozessordnungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit gelten, in denen die Maßnahme angeordnet wurde. Entsprechend haben verschiedene Gerichte - jedenfalls in besonderen Fallkonstellationen - gestützt auf die allgemeine Vorschrift des §
304 Abs. 1 StPO ein Beschwerderecht des Betroffenen anerkannt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. August 1976 - 2 Ws 143/76, NJW 1977, 309; OLG München, Beschluss vom 14. Juli 2006 - 2 Ws 679/06, NJW 2006, 3079; OLG Celle, Beschluss vom 8. Juni 2015 - 2 Ws 92/15, juris Rn. 11 f.; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 24. November 2011 - III-3 Ws 370/11, NStZ-RR 2012, 118, 119; LG Ravensburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 - 2 Qs 10/07, NStZRR
2007, 348, 349).
Ein solches Verständnis liegt erkennbar auch der Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zugrunde, wonach sitzungspolizeiliche Maßnahmen mit potentiellem Einfluss auf die Urteilsfindung als sachleitende Anordnungen des Vorsitzenden im Sinne des § 238 Abs. 2 StPO anzusehen sind, gegen die der Betroffene nach dieser Vorschrift das Gericht anrufen kann und dies auch muss, wenn er sich eine entsprechende Revisionsrüge erhalten will (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2008 - 4 StR 46/08, NStZ 2008, 582; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 238 Rn. 21; SKStPO/ Velten, 4. Aufl., § 176 GVG Rn. 17; KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 238 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 176 GVG Rn. 16; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2006 - 5 StR 472/06, NStZ 2007, 281, 282; aA Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., § 176 Rn. 2, 48 f. mwN; KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 176 GVG Rn. 7; Jahn, NStZ 1998, 389, 392); denn wäre aus § 181 GVG die Unanfechtbarkeit sitzungspolizeilicher Anordnungen abzuleiten, so könnte im Hinblick auf die Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO die Revision auch nicht darauf gestützt werden, die sitzungspolizeiliche Maßnahme sei rechtsfehlerhaft gewesen (vgl. zur Frage des Ausschlusses der Revision bei Unanfechtbarkeit einer vorangegangenen Entscheidung: BGH, Beschluss vom 5. Januar 1977 - 3 StR 433/76, BGHSt 27, 96, 98).
2. All dies bedarf hier indes keiner Entscheidung. Sollten sitzungspolizeiliche Anordnungen überhaupt der Anfechtung unterliegen, so kommt - da eine "außerordentliche Beschwerde" im Strafverfahren nicht anzuerkennen ist (BGH, Beschluss vom 19. März 1999 - 2 ARs 103/99, BGHSt 45, 37) - als Rechtsmittel allein die Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO in Betracht, der auch am Verfahren nicht beteiligten Dritten ein Rechtsmittel gegen sie beschwerende  Maßnahmen des Gerichts eröffnet (vgl. § 304 Abs. 2 StPO). Mit diesem Rechtsbehelf können alle richterlichen Anordnungen im Strafverfahren ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung angefochten werden, soweit sie nicht ausdrücklich von der Anfechtbarkeit ausgenommen sind (LR/Matt, StPO, 26. Aufl., § 304 Rn. 4). Einen solchen ausdrücklichen Ausschluss der Anfechtbarkeit sieht § 304 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO für die hier in Rede stehende Sachverhaltskonstellation vor. Danach ist gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte in Sachen, in denen sie im ersten Rechtszug zuständig sind, die Beschwerde nur in den in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO ausdrücklich aufgeführten Fällen zulässig. Sitzungspolizeiliche Anordnungen finden dort keine Erwähnung.
Eine allenfalls im engsten Rahmen in Betracht kommende analoge Anwendung der nach ständiger Rechtsprechung restriktiv auszulegenden  Ausnahmevorschriften (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 304 Rn. 12 mwN) scheidet im vorliegenden Fall auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßgaben, auf die sich die Beschwerdeführerinnen berufen, aus. Zwar hat der Bundesgerichtshof in wenigen besonderen Fällen Beschwerden zum Bundesgerichtshof gegen erstinstanzliche Beschlüsse der Oberlandesgerichte in entsprechender Anwendung des § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO bei Maßnahmen für zulässig erachtet, die aus bestimmten Gründen besonders nachteilig in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen oder sonst von besonderem Gewicht sind. Er hat § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO bisher aber nur in solchen Fällen analog angewendet, in denen die angegriffenen Entscheidungen - insbesondere im Hinblick auf die durch sie beeinträchtigten Rechtspositionen - mit den im Katalog dieser Vorschrift genannten vergleichbar gewesen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1981 - StB 31/81, BGHSt 30, 168, 170 f.; Beschluss vom 3. Mai 1989 - StB 15 und 16/89, BGHSt 36, 192,
195 f.; auch BGH, Beschluss vom 4. August 1995 - StB 46/95, StV 1995, 628). Für eine entsprechende Anwendung der Vorschrift, mit der diese nicht nur auf Sachverhalte ausgedehnt würde, die mit den genannten Ausnahmefällen vergleichbar sind, sondern die den Ausnahmekatalog auf völlig anders gelagerte Konstellationen erweitern würde, sieht der Senat keine gesetzliche Grundlage. Eine solche Erweiterung des Ausnahmekatalogs ist vielmehr dem Gesetzgeber vorbehalten. Auch dass vorliegend das Grundrecht der Pressefreiheit betroffen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08, NJW 2015, 2175, 2176 a. E.), rechtfertigt es nicht, entgegen dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers ein Beschwerderecht einzuräumen. Der Gesetzgeber hat in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte - mit Ausnahme der im Katalog aufgeführten Eingriffe - einer  Beschwerdemöglichkeit entzogen und es damit in Kauf genommen, dass in anderen Fällen mit Grundrechtsbezug ein Rechtsmittel nicht gegeben ist. Dies entspricht auch der gesetzgeberischen Wertung, die § 181 Abs. 1 letzter Halbsatz GVG zugrunde liegt. Denn auch die an sich statthafte Beschwerde gegen
sitzungspolizeiliche Anordnungen, mit denen Ordnungsgeld oder Ordnungshaft verhängt wurde, findet gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln durch ein Oberlandesgericht nicht statt. Damit hat der Gesetzgeber ausdrücklich eine sitzungspolizeiliche Anordnung, die in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingreift, von der Rechtsmittelmöglichkeit ausgenommen, wenn diese von einem Oberlandesgericht erlassen wurde. Dies spricht gegen die Annahme, der Gesetzgeber habe bei Verfügungen und Beschlüssen eines Oberlandesgerichts, die in ein Grundrecht eingreifen, generell eine Rechtsmittelmöglichkeit vorsehen wollen.